Preußens oktroyierte Verfassung 1850

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Preußens oktroyierte Verfassung

Die Verfassung für den Preußischen Staat von 1848 wurde im Rahmen des Konstitutionalismus am 5. Dezember 1848 als Reaktion auf die Märzrevolution in Berlin vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. für den gesamten preußischen Staat oktroyiert. Obwohl nicht, wie vorgesehen, zwischen König und Nationalversammlung vereinbart, übernahm die Verfassung erstmals auf deutschem Boden viele liberale Positionen, einen großen GrundrechteKatalog sowie die Einführung von Schwurgerichten verbunden mit dem Auftrag zur Sicherstellung von Rechtssicherheit und Kontrolle des Monarchen.

Weder die Akzeptanz der Verfassung noch die späteren Reformen dürfen aber darüber hinwegtäuschen, dass Preußen noch weit von einer demokratischen Staatsordnung entfernt war. Dem König stand ein absolutes Veto gegen Gesetze zu. Die Gewaltenteilung war dadurch eingeschränkt, die Rechtsprechung konnte vom Monarchen umgangen werden und das Militär musste als Staat im Staate bezeichnet werden. Das Dreiklassenwahlrecht schränkte die politische Beteiligung der Mittel- und Unterschichten stark ein.

Diese Kritikpunkte an der Verfassung müssen aber auch vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Situation nach der Revolution von 1848 betrachtet werden. So ist es verständlich, dass für viele Bürger eine „halbliberale“ Verfassung dem weiteren Ausnahmezustand vorzuziehen war.

Hier einige Artikel aus dieser oktroyierten Verfassung:

Art. 62: Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich. […]

Art. 63: Nur in dem Falle, wenn die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen Nothstandes es dringend erfordert, können, insofern die Kammern nicht versammelt sind, unter Verantwortlichkeit des gesamten Staats-Ministeriums, Verordnungen, die der Verfassung nicht zuwiderlaufen, mit Gesetzeskraft erlassen werden. […]

Art. 64: Dem Könige, so wie jeder Kammer, steht das recht zu, Gesetze vorzuschlagen. Gesetzesvorschläge, welche durch eine der Kammern oder den König verworfen worden sind, können in derselben Sitzungsperiode nicht wieder vorgebracht werden.

Art. 65: Die erste Kammer besteht a) aus dem großjährigen königlichen Prinzen; b) aus den Häuptern der ehemals unmittelbaren reichsständischen Häuser in Preußen – und aus den Häuptern derjenigen Familien, welchen durch Königliche Verordnung das nach der Erstgeburt und Linealfolge zu vererbende Recht auf Sitz und Stimme in der ersten Kammer beigelegt wird. […] c) aus solchen Mitgliedern, welche der König auf Lebenszeit ernennt. Ihre Zahl darf den zehnten Teil der zu a) und b) genannten Mitglieder nicht übersteigen; d) aus neunzig Mitgliedern, welche in Wahlbezirken, die das Gesetz feststellt, durch die dreißigfache Zahl derjenigen Urwähler (Art. 70), welche die höchsten direkten Staatssteuern bezahlen, durch direkte Wahl nach Maßgabe des Gesetzes gewählt werden; e) aus dreißig nach Maßgabe des Gesetzes von den Gemeinderäthen gewählten Mitgliedern aus den größeren Städten des Landes. […]

Art. 69: Die zweite Kammer besteht aus 350 Mitgliedern. Die Wahlbezirke werden durch das Gesetz festgestellt.

Art. 70: Jeder Preuße, welcher das fünf und zwanzigste Lebensjahr vollendet hat und in der Gemeinde, in welcher er seinen Wohnsitz hat, die Befähigung zu den Gemeindewahlen besitzt, ist stimmberechtigter Urwähler. […]

Art. 71: Auf jede Vollzahl von zweihundert und fünfzig Seelen der Bevölkerung ist ein Wahlmann zu wählen. Die Urwähler werden nach Maaßgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuern in drei Abtheilungen eingetheilt, und zwar in der Art, daß auf jede Abteilung ein Drittheil der Gesamtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler fällt. Die zweite Abtheilung besteht aus denjenigen Urwählern, auf welche die nächst niedrigeren Steuerbeträge bis zur Grenze des zweifachen Drittheils fallen. Die dritte Abtheilung besteht aus den am niedrigsten besteuerten Urwählern, auf welche das dritte Drittheil fällt. […]

Art. 72: Die Abgeordneten werden durch die Wahlmänner gewählt.

Art. 73: Die Legislaturperiode der zweiten Kammer wird auf drei Jahre festgesetzt.

Art. 74: Zum Abgeordneten der zweiten Kammer ist jeder Preuße wählbar, der das dreißigste Lebensjahr vollendet, den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses nicht verloren und bereits drei Jahre dem preußischen Staatsverbande angehört hat. […]

Art. 83: Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Überzeugung und sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.

Art. 84: Kein Mitglied einer Kammer kann ohne deren Genehmigung während einer Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei der Ausübung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages nach derselben ergriffen wird. […]

http://www.documentarchiv.de/nzjh/verfpr1848.html

Grundrechte

Die Grundrechte der preußischen Verfassung von 1848 sind, wie sich bereits aus der Überschrift („Von den Rechten der Preußen“) ergibt, ausschließlich Bürgerrechte. Die Bedingungen zu Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft bestimmt ein Gesetz. Auch wird in Artikel 9 der Verlust der staatsbürgerlichen Rechte durch Richterspruch nach einer begangenen Straftat (bürgerlicher Tod) ausgeschlossen.

In Artikel 4 wird den preußischen Staatsbürgern Gleichheit vor dem Gesetz und ein Verbot der Standesvorrechte versichert.

Die Verfassung gewährleistet die persönliche Freiheit, diese wird jedoch durch das „Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit“ in Bezug auf Verhaftungen eingeschränkt, da im betreffenden Gesetz die Möglichkeit einer Schutzhaft zur Aufrechterhaltung der „öffentlichen Sittlichkeit, Sicherheit und Ruhe“ eröffnet wird. Der Verhaftete musste schnellstmöglich einem Richter vorgeführt werden.

Die Unverletzlichkeit der Wohnung wird garantiert. Den preußischen Staatsbürgern wird die Wohnung als Privatsphäre zugesichert, die nur durch Gesetze, beispielsweise in Fällen einer Hausdurchsuchung, eingeschränkt werden kann. Eingriffe in das Grundrecht des Briefgeheimnisses, das ebenfalls in Artikel 6 behandelt wird, sind – vergleichbar mit dem heutigen bundesdeutschen Artikel 10 – nur auf richterlichen Befehl, bei Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen zulässig. Ein Widerspruch hierzu findet sich jedoch in Artikel 33 der Verfassung: Hier werden strafrechtliche Untersuchungen als Ausnahmefall des Briefgeheimnisses festgelegt, des Weiteren existieren in „Kriegsfällen notwendige[..] Beschränkungen“.

Die Verfassung gewährleistet das Recht der Meinungs- und Pressefreiheit mit einigen Einschränkungen in den Artikeln 24 bis 26. So ist es jedem preußischen Staatsbürger erlaubt, sich „durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung [..] frei zu äußern“, jegliche Zensur oder Hemmung des Rechts der freien Meinungsäußerung ist verboten. Die Strafbarkeit von Meinungs- und Pressevergehen erfolgt auf der Grundlage eines „besondere[n] vorläufige[n] Gesetz[es]“. Den Verlegern, Druckern und Verteilern eines jeden Textes, dessen Inhalte gegen Gesetze verstoßen, wird, falls keine weitere Mitschuld besteht, Straffreiheit zugesichert.

Versammlungsfreiheit, also das Recht auf friedliche Versammlungen in geschlossenen Räumen ohne Anmeldung, wird in Artikel 27 gewährleistet. Einschränkungen bezüglich Versammlungen unter freiem Himmel unterliegen dem Gesetz. Bis zu dessen Inkrafttreten müssen Versammlungen unter freiem Himmel mindestens einen Tag zuvor angemeldet werden. Sie dürfen mit Verweis auf eine Gefährdung für die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ abgewiesen werden. Damit ist die Organisation, beispielsweise einer Demonstration im Freien, zwar von der Auslegung der Behörden abhängig, jedoch kann der so Abgewiesene durch eine Petition gegen diese Entscheidung vorgehen, denn „das Petitionsrecht steht allen Preußen zu.“ Nähere Angaben, beispielsweise betreffend der Art der Petition und an welche Kammer sie gerichtet werden kann, fehlen im Verfassungstext gänzlich.

Jeder Preuße hat gemäß Artikel 7 der Verfassung das unbedingte Recht auf einen „gesetzlichen Richter“, nur ordentliche Gerichte dürfen Strafen gemäß einem Gesetz verhängen.

In Artikel 8 wird den preußischen Staatsbürgern der Eigentumsschutz gewährleistet. Die Unverletzlichkeit des Eigentums ist nur durch Entzug oder Beschränkung aus Gründen des öffentlichen Wohles eingeschränkt. Eine verpflichtende Entschädigung ist an den Geschädigten zu zahlen. Damit gleicht der Eigentumsschutz in der preußischen Verfassung von 1848 aktuellen Regelungen.

Die freie Religionswahl und -Ausübung, ebenso wie das Recht, sich in religiösen oder anderen Gesellschaften zu vereinigen, sind gewährleistet. Des Weiteren beschäftigen sich die Artikel 11 bis 16 mit der Koexistenz von Religion und Staat. Der preußische Staat gewährleistet alle staatsbürgerlichen Rechte unabhängig von der Religion des Einzelnen, gleichzeitig darf die Religionsausübung jedoch die staatsbürgerlichen Pflichten nicht behindern. Alle Religionsgesellschaften (mit besonderer Betonung der „evangelischen und römisch-katholischen Kirche“ im Verfassungstext) üben ihre Rechte (beispielsweise die Besetzung kirchlicher Stellen) autonom aus, für die Veröffentlichung ihrer Anordnungen gelten dieselben Regeln wie für normale Veröffentlichungen. Eine obligatorische Zivilehe existiert als Voraussetzung einer religiösen Eheschließung, die religiöse Eheschließung ist aber für die rechtliche Gültigkeit der Ehe unbedeutend.

Der preußische Staat gewährleistet die Unabhängigkeit der Wissenschaft und der Lehre. Jeder preußische Jugendliche hat ein Grundrecht auf allgemeine, kostenfreie Bildung an öffentlichen Volksschulen; eine Schulpflicht besteht. Die Gründung von privaten Unterrichtsanstalten ist gewährleistet, die Voraussetzung für die Arbeit als Lehrer an öffentlichen oder privaten Schulen ist der Nachweis der „sittlichen, wissenschaftlichen und technischen Befähigung“ bei den zuständigen Staatsbehörden. Der Religionsunterricht an Volksschulen unterliegt den Religionsgesellschaften. Die Lehrer an öffentlichen Schulen sind Staatsdiener, ihnen wird vom Staat ein ausreichendes Gehalt gewährt. Die Leitung öffentlicher Schulen und die Auswahl der Lehrer sowie die finanzielle Verpflichtung für die Unterhaltung der Schulen obliegt den Gemeinden.

Die persönliche Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, das Recht auf einen gesetzlichen Richter, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Bestrafung von Pressevergehen, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Vereinigung in Gesellschaften dürfen auf der Basis des Artikels 110 der preußischen oktroyierten Verfassung von 1848 im Falle eines „Krieges oder Aufruhrs […] zeit- und distriktweise außer Kraft gesetzt werden“.