Die Wächter der Macht

gelesen: https://www.rubikon.news/artikel/die-wachter-der-macht

Die Wächter der Macht

NewsGuard heißt das jüngste Kind eines Wahrheitsregimes, das alle Register zieht, um die Konkurrenz im Kampf um Deutungshoheit auszuschalten.

Wikipedia weiß es schon seit mehr als einem Jahr: Rubikon ist „eine Webseite, die hauptsächlich über deutsche Politik berichtet, dabei Narrative der russischen Regierung unterstützt und Verschwörungsmythen sowie falsche und irreführende Behauptungen veröffentlicht, unter anderem auch über das neuartige Coronavirus“. Quelle ist ein Zwölf-Seiten-Bericht von Marie Richter, der rechts oben in roter Schrift auf den Punkt gebracht wird: „NewsGuard empfiehlt Vorsicht bei der Nutzung dieser Webseite: Sie verstößt schwerwiegend gegen grundlegende journalistische Standards.“

Darunter stehen ein Score, 35 von 100 Punkten, sowie vier rote Kreuze, vier grüne Häkchen und ein weißes Feld, weil Rubikon keine Werbung hat, 7,5 Punkte. Wir lernen: Die Überschriften sind okay (10 Punkte) und man weiß, wem der Rubikon gehört, wer ihn bezahlt (7,5), wer hier schreibt (5) und wer redigiert (5). In meiner Welt wären das 100 Punkte. Transparenz pur und Menschen, die es schaffen, komplexe Artikel auf drei Worte zu verdichten und dabei auch noch einen Leseanreiz zu setzen.

NewsGuard kommt aus einer anderen Welt. In dieser Welt weiß man, was richtig ist und was falsch (22 Punkte), auf welche Quellen man sich stützen darf (18), was als Korrektur von Fehlern durchgeht (12,5) und wie man Nachricht und Meinung unterscheiden kann (12,5). Null von 65 Punkten für den Rubikon in der Rubrik „Glaubwürdigkeit“. Für 2021 hat Marie Richter aus den 100-Punkte-Seiten von NewsGuard ein Ranking gebastelt, das die „Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken“ abbilden soll. Ganz oben in den Top Ten: Spiegel, FAZ, BR, Süddeutsche Zeitung.

Ich gebe zu: Viel mehr wollte ich über diese Marie und ihre Sponsoren eigentlich gar nicht wissen. In ihrer Rubikon-Analyse schreibt sie, es gebe keine Beweise, „dass das neuartige Coronavirus und die Bemühungen zur Eindämmung des Virus Teil eines Plans zur Kontrolle der Weltbevölkerung“ seien oder dass ein tiefer Staat „im Geheimen die Macht gewählter Regierungen aushöhlt“. Außerdem hätten gleich „mehrere Faktenchecker- und Nachrichtenorganisationen“, „darunter Reuters, PolitiFact und Snopes“, bezweifelt, dass George Soros BLM-Proteste bezahlt habe. Auch Rockefeller, Ford und Gates werden von Marie Richter in dieser Sache freigesprochen. „Keine Beweise“, euer Ehren. Man muss das nicht zu Ende lesen. Die Impfung, 9/11, Skripal, MH17, Palästina.

Die Liste der Rubikon-Verfehlungen ist lang und wird offenbar getoppt durch die fixe Idee, dass die Erzählung von der Demokratie dem Realitäts-Check nicht wirklich standhält.

Warum ich jetzt trotzdem über NewsGuard schreibe? Die Redaktion hat gefragt. Anlass war eine Multipolar-Recherche von Paul Schreyer. Das Onlinemagazin, das Schreyer mit Stefan Korinth und Ulrich Teusch herausgibt, ist offenbar endgültig in die Oberliga der oppositionellen Nachrichtenseiten aufgestiegen und so in das Visier der Wahrheitswächter geraten.

Paul Schreyer hat dieses Thema so aufbereitet, wie wir das von ihm kennen. 100 Punkte. Wir erfahren, wer NewsGuard bezahlt: unter anderem der milliardenschwere Werbekonzern Publicis, der auch für Pfizer arbeitet. Wer die Organisation berät: lauter Menschen, bei denen Nato, CIA oder die US-Regierung im Lebenslauf stehen. Wer die Ratings erstellt: Journalisten, die auch für die Leitmedien arbeiten und teilweise sogar aktuelle oder ehemalige Arbeitgeber bewerten. Und wer Marie Richter ist: eine 25-jährige Professorentochter ohne Berufserfahrung jenseits von NewsGuard.

Natürlich geht es bei Paul Schreyer auch um die Kriterien, die zu roten Kreuzen oder grünen Häkchen führen. In Kurzform: viele Punkte dort, wo es um die „Gesinnung“ geht. Unter der Zwischenüberschrift „Objektivitätsmythos“ werde ich selbst zitiert:

„Hier (vermeintlich objektive) Nachrichten, dort Meinungen: Dieses Trennungsgebot ist Teil einer Ideologie, die die Interessen hinter der Berichterstattung der Leitmedien verschleiert. Journalismus ist Selektion. Das beginnt bei der Entscheidung, was überhaupt zum Thema wird, und endet längst nicht bei der Gewichtung (was steht groß vorn, was eher klein weiter hinten) oder bei der Berufung auf opportune Zeugen. Wertungen werden über Sprache transportiert — auch und gerade im ‚Nachrichten‘-Teil. Die Forschung hat vielfach nachgewiesen, dass dort die gleiche Botschaft zu finden ist wie in den Kommentaren. Wer wie NewsGuard das Gegenteil behauptet und auf dieser Basis auch noch Gütesiegel verteilt, wird zum Wächter der herrschenden Meinung. Es ist deshalb kein Zufall, dass diese Organisation überhaupt keinen Wert auf Vielfalt legt und das Kriterium Transparenz (wer schreibt hier, wer bezahlt und wer liefert warum zu) unter ferner liefen behandelt.“

Ich würde das hier nicht wiederholen, wenn mir die Post nicht am gleichen Tag das neue Buch von Hannes Hofbauer in den Kasten gelegt hätte. „Zensur“ steht auf dem Cover, das aussieht wie eine Akte aus dem Kirchenarchiv oder wie ein Abschnitt aus den „Reisebildern“ von Heinrich Heine, der einst für die „deutschen Zensoren“ nur das Wort „Dummköpfe“ stehen ließ (1). Hofbauer, ein studierter Historiker, startet seine Zeitreise zwar mit der Erfindung des Buchdrucks, kommt dann aber über das 20. Jahrhundert schnell in die Gegenwart und liefert so den Kontext, den Paul Schreyer in seinem NewsGuard-Porträt nur andeuten kann.

Hannes Hofbauer sagt: Zensur und Publikationsverbote gibt es immer und überall. „Betroffen sind Positionen, die das herrschende Narrativ in Frage stellen und gleichzeitig das Potenzial einer weiten Verbreitung besitzen.“ Und: Die Zensur wird stärker, wenn eine Zeitenwende näher rückt.

„In genau einer solchen Situation befinden wir uns. Die Wiederkehr der Zensur wurzelt in der Schwäche des transatlantischen Raumes. Im Niedergang kämpft das Establishment um seine Daseinsberechtigung“ (2).

Das heißt: Das Wahrheitsmonopol wird mit Zähnen und Klauen verteidigt. Auf in den Kampf gegen die „Demokratisierung des Wissens“, auch wenn die Geschichte lehrt, dass es der „Herrschaft“ nie — „und schon gar nicht vollständig“ — gelingt, alle Stimmen mundtot zu machen, die ihr „wirklich gefährlich werden können“ (3).

Es braucht diese gute Nachricht am Schluss des Buches, um verdauen zu können, was Hannes Hofbauer an neuen, in früheren Epochen „nicht gekannten Formen“ der Zensur auflistet.

Bevor ich das zu Stichpunkten verdichte, sei auf die beiden wichtigsten Muster hingewiesen. Zum einen reflektiert die westliche Zensurpolitik des 21. Jahrhunderts das, was Sheldon Wolin in die Formel „umgekehrter Totalitarismus“ gegossen hat — die „Koalition“ zwischen Staat und Monopolkonzernen oder, etwas ausführlicher, die „symbiotische Beziehung zwischen einer herkömmlichen Regierungsform und dem System des ‚privaten‘ Regierens, das durch moderne Kapitalgesellschaften repräsentiert wird“ (4).

Hofbauer zeigt vor allem am Beispiel von EU und Silicon Valley, wie dieses Zusammenspiel funktioniert und wie dabei gleichsam nebenbei jede Verantwortung verschleiert wird. Zum anderen dreht es sich immer um die gleichen Themen: „Ukraine, Krim, russische Nation, Migration, Embargo, Corona“. Ich zitiere hier nur exemplarisch. „Es geht um die transatlantische Position zu Russland und die Corona-Politik der allermeisten EU-europäischen Staaten“ (5).

NewsGuard fehlt bei Hannes Hofbauer genauso wie die „Trusted News Initiative“, über die ich im Rubikon schon berichtet habe. Dafür gibt es Abschnitte über die Faktenchecker und über Berufsverbote, über die Kriege gegen RT und Ken Jebsen, über die Cleaner von Facebook und die Trusted Flagger von YouTube sowie eine systematische Aufarbeitung der Attacken gegen die Meinungsfreiheit, die von der EU und vom deutschen Gesetzgeber in der jüngsten Vergangenheit geritten worden sind (6):

Bei Hannes Hofbauer beginnt der Reigen mit einem EU-Rahmenbeschluss vom 28. November 2008, bei dem es um „die Definitionshoheit über Völkermord“ ging und damit „de facto“ um Diskussionsverbote und Tabus in Sachen Kriegsschuld, etwa in Jugoslawien oder in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Es folgt die „East StratCom Task Force“, etabliert im März 2015 nach dem „Regimewechsel in der Ukraine“ mit dem Ziel, das „eigene Narrativ“ durchzusetzen. Auf der Seite EU vs. Disinfo wird seither in hoher Schlagzahl alles bekämpft, was diesem Narrativ widerspricht.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, in Kraft seit 1. Oktober 2017, interpretiert Hannes Hofbauer ganz richtig als „staatlichen Anstoß“, der es privaten Internetkonzernen erlaubt hat, zu „Zensurmaschinen“ zu mutieren. Die beiden wichtigsten Probleme: Die Begriffe „Hasskriminalität“ und „Fake News“ — die Zielscheiben des Gesetzes — zeichnen sich durch „interpretative Dehnbarkeit“ aus. Und: Das „neue Zensorenregime“ ist „irgendwo zwischen Berliner Justizministerium und US-amerikanischen Konzernzentralen“ angesiedelt und so „kaum fassbar“.

Die EU vereinbart im Oktober 2018 mit Facebook, Google und Twitter einen „Verhaltenskodex gegen Desinformation“, den inzwischen auch Plattformen wie Vimeo, Clubhouse, Avaaz oder WhoTargetsMe unterzeichnet haben.

„Vorläufig letzter Baustein“ ist bei Hofbauer der Medienstaatsvertrag, der am 7. November 2020 aus den Landesmedienanstalten „Kontrolleinrichtungen für die digitale Publikationswelt“ gemacht hat. Seitdem fordert der „Gesetzgeber von Webseitenbetreibern, Bloggern und Medienintermediären“ eine Wahrheitsprüfung — unter dem Etikett „journalistische Sorgfalt“ —, obwohl die „Definition von Wahrheit beziehungsweise ihrer Missachtung keine hoheitliche Aufgabe sein dürfte“.

Hannes Hofbauer erwähnt, dass der Rubikon aus dieser neuen Zensurbürokratie sehr schnell eine Abmahnung bekommen hat. Anders als das rote Warnschild, das NewsGuard zum Beispiel an Microsoft verkauft und das uns deshalb oft anschaut, wenn wir im Browser Edge nach Texten suchen, kosten solche „blauen Briefe“ Zeit, Nerven und vor allem Geld für den Anwalt oder für die Strafe. Sie konnten diesen Text trotzdem lesen. Vielleicht haben Sie sogar schon ein Buch von Rubikon gekauft oder einen Zehner gespendet. Der Streit um die Wahrheit lässt sich nicht unterdrücken, allen Warnschildern, Drohungen und Löschungen zum Trotz.


 

 

Das Buch können Sie hier bestellen: als Taschenbuch, E-Book oder Hörbuch.


Stimmen zum Buch

„Ist zu den Themen Medien und Medienkritik bereits alles Wichtige gesagt? Michael Meyen belehrt uns auf fulminante Weise eines Besseren. Der Autor führt in die verzweigte Debatte ein, verdichtet sie, spitzt sie zu und treibt sie voran, entwickelt Perspektiven — stilistisch brillant, mitreißend, erhellend. Medienkritische Aufklärung als Lesegenuss!“
Ulrich Teusch, Professor für Politikwissenschaft

„Wer wie Goethes ‚Faust‘ wissen will, was ‚die Welt im Innersten zusammenhält‘, der muss Michael Meyens brillante Darstellung lesen, die tiefe Einblicke in die gegenwärtige Medien-Matrix liefert. Mit erzählerischer Leichtigkeit und analytischer Schärfe werden die Erkenntnisse von intellektuellen Größen wie Hannah Ahrendt, Ulrich Beck, Pierre Bourdieu, Noam Chomsky, Michel Foucault, Walter Lippmann und Niklas Luhmann für die Beobachtung (…) fruchtbar gemacht. Sichtbar werden die ‚blinden Flecken‘, aber auch die neuen Chancen von demokratischer Beteiligung und selbstbestimmter Erkenntnis.“
Carsten Gansel, Literaturwissenschaftler

„Michael Meyens Buch ist trotz des knalligen Titels vor allem eines: solide Wissenschaft. Der Autor verbindet dabei zwei Qualitäten, die im akademischen Feld Seltenheitswert haben: Er schreibt prägnant, ohne Umschweife und vermeidet zugleich jede Selbstgerechtigkeit. Dieser Stil ist auch den politischen Debatten zu wünschen, die dieses Buch mit seinen brisanten, brandaktuellen Überlegungen hoffentlich anstößt.“
Paul Schreyer, Bestsellerautor

„Michael Meyen geht es um mehr als um Verständnis für sein Fach. Er bietet seine Expertise, klärt auf, macht verstehbar und veranschaulicht Mechanismen mit nichts weniger als der Freiheit im Blick. Ein Weißbuch für einen besseren Journalismus, wenn nicht für eine Revolution der Medien!“
Martin Sinzinger, Naturfotograf

„Ein mutiges Buch, auf den Punkt. Meyens Medienbeobachtungen führen uns vor Augen, wie real die Abgründe im ‚Journalismus‘ unserer Zeit sind.“
Marcus Klöckner, Journalist


Quellen und Anmerkungen:

(1) Hannes Hofbauer, Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung. Promedia, Wien 2022
(2) Ebenda, S. 7
(3) Ebenda, S. 9, 237
(4) Sheldon S. Wolin, Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld. Westend, Frankfurt am Main 2022, S. 60 bis 63
(5) Hofbauer, Zensur, S. 8, 133f.
(6) Ebenda, S. 124 bis 144




Demokratie wie diese bis heute ein Machtmittel der Parteien war

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Wer hat Angst vor dem Volk?


Bereits die Gründerväter der Demokratie hielten das Volk für dumm. Diese Erniedrigung macht den Populismus heute wieder groß. Besiegen kann ihn nur der Glaube an die Mündigkeit des Menschen.

Von Dieter Thomä


Wer ist schuld an der Krise der Demokratie? Die naheliegende Antwort lautet: das Volk. Es bringt Leute wie Donald Trump, Heinz-Christian Strache, Matteo Salvini, Narendra Modi oder Jair Bolsonaro an die Macht und macht die AfD in Deutschland zur drittstärksten politischen Kraft. Viele Zeitgenossen – zumal solche, die sich für klug halten – beklagen, dass das Volk von allen guten Geistern verlassen sei, und suchen nach Wegen, um die Demokratie vor dem Volk zu schützen. Das ist zwar ungefähr so absurd, wie das Atelier vor dem Künstler oder das Restaurant vor dem Koch zu schützen, denn in der Demokratie soll das Volk ja das Sagen haben. Der Aufstieg des Populismus aber bringt dem demokratischen Souverän den Vorwurf ein, den nötigen Durchblick vermissen zu lassen und seine Selbstbestimmung zu vergeigen.

Von Zoodirektoren und Schulmeistern

Diejenigen, die von Misstrauen gegen das Volk erfüllt sind, wollen es kleinhalten und meinen, damit der Demokratie einen Dienst zu tun. Sie geben sich staatsmännisch und ergreifen alle möglichen Schutzmaßnahmen, um die Institutionen vor dem Zugriff des vermeintlich unmündigen Volkes zu schützen. Dieses tiefe Misstrauen hat eine lange philosophische Tradition, deren Protagonisten sich in zwei Berufsgruppen unterteilen lassen: in Zoodirektoren und Schulmeister.

Die Zoodirektoren wollen den Bewegungsspielraum des Volkes einschränken, es anleinen oder einsperren – und zwar deshalb, weil sie im Volk ein Tier sehen. Es ist triebgesteuert, impulsiv, unbelehrbar, unberechenbar und vielleicht sogar blutrünstig. Diese Lesart hat eine lange Tradition. Bei Platon hieß das Volk „großes Tier“, bei Hegel „rohes blindes Tier“, bei Alexander Hamilton, Thomas Carlyle, Honoré de Balzac und vielen anderen „wildes Tier“. Einen subversiven Kommentar zu dieser gefährlichen Mischung aus Angst und Verachtung lieferte Bertolt Brecht in seinem ersten Theaterstück „Baal“. Vorgeführt wurde darin ein Kraftkerl, der sich auf brutale Weise über die guten Sitten hinwegsetzte und als „Orang-Utan“ sowie wiederum als „wildes Tier“ bezeichnet wurde. Dieses Vokabular ist übrigens keineswegs von gestern. Als im Jahr 2011 Jugendliche auf den Straßen Londons und anderer englischer Städte randalierten, hieß es in einem Kommentar der Daily Mail: „Sie sind letzten Endes wilde Tiere. Sie reagieren nur auf triebhafte, tierische Impulse – Essen, Trinken, Sex, Raub oder Zerstörung des Eigentums anderer.“

Während die Zoodirektoren das Volk unter Kontrolle halten wollen, versuchen die Schulmeister, es zu erziehen. Einer der ersten und strengsten war Thomas Hobbes, der meinte, die Armen und Ungebildeten sollten von Staats wegen ein paar Unterrichtsstunden bekommen, in denen sie zu lernen hätten, dass die Befolgung der Gesetze in ihrem eigenen Interesse liege. Hobbes forderte sogar, dass sie dafür von der Arbeit freigestellt werden sollten, erfand nebenbei also immerhin den Bildungsurlaub. Der Zweck dieser Schulung bestand freilich nur darin, gute Untertanen, nicht mündige Bürger hervorzubringen.

Auf Hobbes folgen dann ehrgeizigere Schulmeister, die das kindliche Volk zur Mündigkeit führen wollen oder – nach Immanuel Kants berühmter Formel – den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ propagieren. Kant will dem Volk die „Faulheit und Feigheit“ verleiden, „Vormündern“ zu folgen. Damit tut er nichts anderes, als einer Analyse Niccolò Machiavellis eine freiheitliche Wendung zu geben. Schon bei Machiavelli heißt es: „Ein Volk, das daran gewöhnt ist, unter einem Fürsten zu leben, ist in der gleichen Lage wie ein Raubtier, das zwar von Natur wild und unbändig, aber immer im Käfig und unter der Peitsche gehalten, durch einen Zufall ins Freie gelassen wird. Es wird dann die Beute des ersten besten, der es wieder an die Kette legen will.“ Bei Machiavelli wie auch bei Kant steht am Anfang ein Volk, das von der Aufgabe der Selbstbestimmung überfordert scheint und dazu neigt, sich zweifelhaften Vormündern oder Leitwölfen an den Hals zu werfen. Genau diesen Mechanismus machen sich die populistischen Führer heutzutage zunutze.


Bei Machiavelli wie auch bei Kant steht am Anfang ein Volk, das von der Aufgabe der Selbstbestimmung überfordert scheint


Gegen die Unmündigkeit und die Demagogie falscher Vormünder lanciert Kant eine emanzipatorische Initiative. Sie ist leider nicht über allen Zweifel erhaben. Bei Kant ist die Aussicht auf Selbstbestimmung mit dem Vorbehalt gekoppelt, dass dem Volk ohne gehörige Betreuung keineswegs zu trauen sei. Kant, der Schulmeister, ist vom Zoodirektor weniger weit entfernt, als sich manche seiner Verehrer dies wünschen. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Schule der Demokratie einen ziemlich anspruchsvollen Lehrplan hat. Wenn Kant allerdings das Projekt der Volkserziehung als Kampf gegen die „Rohheit“ der „Sinne“ und den Wildwuchs der Leidenschaften anlegt, dann verwendet er ein Argumentationsmuster, das zum Missbrauch geradezu einlädt: Es besagt, dass die Demokratie eigentlich eine feine Sache ist, aber viele Völker dafür nicht reif seien. Das Scheitern der Demokratie wird auf die Dumpfheit der Völker zurückgeführt.

Diese Auffassung war – um ein historisches Beispiel einzuflechten – besonders weit verbreitet, als die Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit verhandelt wurde. Offen oder hinter vorgehaltener Hand hört man sie heute noch häufig, wenn von den Schwierigkeiten mit der Demokratie in der sogenannten Dritten Welt die Rede ist. Die Demokratie ist nach dieser Lesart ein Geschenk des Westens, zu Rückschlägen kommt es wegen der Unreife der Menschen, die beglückt werden sollen. So schrieb Heinrich Mann in dem kleinen Text „Der Europäer“ von 1916: „Das Erwachen der Seele selbst kommt jenen Schläfern der Jahrtausende“ – gemeint sind die „dunklen Massen Indiens und Ägyptens“ – „nur von uns. Die Revolte der Vernunft, der Würde des Menschengeistes, ist unser Erbteil.“ Franz Kafkas ein Jahr nach Heinrich Manns Text entstandener „Bericht an eine Akademie“, in der ein Affe von seiner Menschwerdung erzählt, darf man auch als Karikatur auf Manns „Europäer“ und Kants „Mündigkeit“ lesen. „Mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen nur allzu oft“, heißt es bei Kafka.

Die aufklärerische Erziehung zur Mündigkeit ist ein Geschenk, dem Gift beigemischt ist. In der Frühzeit hat es immer wieder als Vorwand dafür gedient, das Volk von der Macht fernzuhalten und es einer langwierigen Schulung zu unterziehen. Heute beobachtet man die umgekehrte Entwicklung: Sie führt von der Demokratie, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, zurück in einen infantilen Zustand, in dem ein unmündiges Volk von populistischen Führern manipuliert wird. Die Krise der Demokratie wird als Regression gedeutet. Man verweist beispielsweise darauf, dass Trump-Anhänger einen vergleichsweise geringen Bildungsstand aufweisen. Oder man meint halb gönnerhaft, halb abfällig, die Ostdeutschen bräuchten Nachhilfeunterricht in Demokratie.

Fürsprecher der Demokratie können auf diese Weise in komfortabler Selbstgefälligkeit verharren. Sie sind fein raus, sie können eigentlich nichts falsch machen, denn alles, was schiefgeht, ist dem bornierten Volk anzulasten. Diese gängige Beschreibung muss gewissermaßen um 180 Grad gedreht werden, erst dann ergibt sie Sinn.

Demnach gilt: Die Unreife des Volkes ist ein Nebenprodukt der real existierenden Demokratie selbst. Über Jahre hinweg ist dem Volk von seinen Repräsentanten vermittelt worden, dass es sowieso nicht den Durchblick haben könne, dass die Steuerung komplexer Gesellschaften seine Kompetenz überschreite, die Experten die Strategie entwickeln und die Sache richten, die globalen Verflechtungen in den Chefetagen und Hauptquartieren gepflegt werden. Besonders wirkungs- und verhängnisvoll sind in diesem Zusammenhang die Berufung auf den Sachzwang und die Ausbreitung des von Margaret Thatcher lancierten TINA-Prinzips („There Is No Alternative“). Wenn die Exekutive das, was geschieht, für alternativlos erklärt, dann schafft sie faktisch die Demokratie ab, in deren Namen sie handelt. Dann darf man sich freilich nicht darüber wundern, dass das Volk diese Auskunft beim Wort nimmt und sich in einer postdemokratischen Welt einrichtet.

Infantile Volks-Empfänger

Die Infantilisierung des Volkes wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass sich die Konsumhaltung, die im Kapitalismus eingeübt wird, auf die Politik ausweitet. So verwandelt sich das Volk in einen Volks-Empfänger und der Staat erscheint nicht als Bühne der Selbstbestimmung, sondern als Instanz, die alle möglichen Zuwendungen, Dienst- und Versorgungsleistungen ausgibt. Solange der Sozialstaat mit einer gönnerhaften, paternalistischen Attitüde auftritt, lässt er das Volk als Betreuungsfall dastehen. Erwachsensein oder Mündigkeit sind nicht nötig, ja sogar eher störend. Dazu passt, dass konservative Sozialtheoretiker wie Arnold Gehlen, Helmut Schelsky und Ernst Forsthoff in den 1950er-Jahren den sogenannten „Vorsorgestaat“ als krönenden Höhepunkt einer totalen Entpolitisierung der Bevölkerung gefeiert haben.


Die Unreife des Volkes ist ein Nebenprodukt der real existierenden Demokratie selbst


Der Populismus ist ein kruder Protest des Volkes dagegen, dass es – ausgerechnet! – von demokratischen Institutionen im Zustand der Unreife gehalten wird. Es handelt sich dabei um eine Reaktion auf die real existierende Demokratie, die deformiert und defekt ist. Das heißt natürlich nicht, dass die populistische Reaktion politisch zu begrüßen wäre – im Gegenteil. Aber Demokraten können beim Kampf gegen den Populismus leider nicht mit stolzgeschwellter Brust vorgehen, sondern müssen Selbstkritik üben.

Die Strategie des Populismus besteht darin, veritable Schwächen der Demokratie aufzuspießen – zum Beispiel die Schwächung der Willensbildung und das Schwinden der Einflussmöglichkeiten von Bürgern in der globalisierten Welt –, um diese Schwächen dann mit demagogischer Raffinesse zu übertreiben. Besonders wirkungsvoll ist in diesem Zusammenhang der Kult des Ressentiments. Demnach wird den Menschen die Deutung angeboten, dass keiner sie ernst nehme, dass sie von bornierten Bürokraten, korrupten Eliten oder anderen anonymen Strippenziehern untergebuttert werden würden. Nach einem robust funktionierenden psychologischen Mechanismus ergibt sich aus dieser Opferhaltung ein Blankoscheck für exzessive Täterschaft. Die Logik dahinter lautet: Wer sein Leben lang zu kurz gekommen ist, wer immer nur auf den Deckel gekriegt hat, ist irgendwann so weit, dass er nicht nur zurückschlägt, sondern wild um sich tritt. So wächst auch die Bereitschaft, die Demokratie in die Tonne zu treten. Wenn dem Populismus dies gelingen sollte, dann wäre das auch die Schuld einer Demokratie, die den Bürgern den Eindruck vermittelt, dass sie ihr eher lästig sind.

Ein Freund der Demokratie, der französische Adlige Alexis de Tocqueville, hat schon im frühen 19. Jahrhundert das Entscheidende zu diesem Thema formuliert: „Sagt man mir also, die Gesetze seien schwach und die Regierten ungebärdig, die Leidenschaften heftig und die Tugend machtlos, und in dieser Lage dürfe man nicht daran denken, die Rechte der Demokratie zu vermehren, so erwidere ich darauf, man müsse gerade wegen dieser Dinge daran denken. Dass das Volk die öffentlichen Angelegenheiten oft sehr schlecht führt, ist unbestreitbar; aber nur wenn das Volk sich in die Staatsgeschäfte einmischt, erweitert sich der Kreis neuer Vorstellungen, und durchbricht das Denken die alltäglich gewohnten Grenzen.“ Reflexhaft klammern sich die Hüter der Demokratie zurzeit an die Institutionen und versuchen, sie vor dem Volk zu schützen. Diese Verpanzerung rettet die Demokratie nicht, sondern zerstört sie. Dem ausgeschlossenen Volk bleibt dann, sich an diesem Panzer den Kopf einzurennen, doch mit einem Brummschädel kommt man nicht auf gute Gedanken. Man muss den Mut haben – heutzutage vielleicht sogar den Mut der Verzweiflung –, an die Weisheit des Volkes zu glauben. Wer dies nicht tut, soll gleich zugeben, dass er nur ein Salondemokrat ist.




Verrauchte Wut, verlöschtes Leben – Verbündet Euch

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Verrauchte Wut, verlöschtes Leben

29. September 2019

Bild: Pixnio.com/CC0

Die Popmusik hat resigniert. Eine Brandrede

I Die Zähmung der Musik

Als Vater halbwüchsiger Kinder bleibt es mir nicht erspart, bisweilen im Radio das hören zu müssen, was der heutigen Jugend als Musik vorgesetzt wird. Selbstverständlich gefällt es mir nicht. Das allein will noch nichts besagen. Jede Generation hat das Recht und die Aufgabe, ihren eigenen Musikgeschmack zu entwickeln. Meine Musik gefiel meinen Eltern auch nicht, glaube ich. Und deren Musik wiederum – der kreative Ausbruch der Sechziger Jahre – war bekanntlich für die Generation ihrer Eltern ein erschreckender Kulturbruch. Und so weiter.

De gustibus non est disputandum. Nicht über Geschmäcker, nicht über Form – aber über Inhalte. Über Aussagen.

Jede Kunst ist ein Ausdruck einer Haltung zur Gesellschaft, ist ein Kommentar zur Welt, eine Mitteilung über einen inneren Zustand des Künstlers. Das gilt besonders für die Musik. In den Sechzigern ebenso wie in den Achtzigern ebenso wie heute gab und gibt es verschiedene Stile der populären Musik, die zu verschiedenen Subkulturen gehören. Von denen jede ihren eigenen Platz in der Gesellschaft sucht.

So wählten die Grufties meiner Jugend Verweigerung durch Resignation und Rückzug, die Reggae-Fans wählten Rastafari und politische Kritik, die Punks wählten Leistungsverweigerung und Wut. So verschieden sie waren – angepasst sein wollten sie alle nicht. Und obgleich es natürlich auch in meiner Jugend eine Menge „Silly love songs“ gab, äußerten sich Künstler in allen Stilen auch zuverlässig und häufig politisch. Mir kommt etwa die LP „Street fighting years“ von den Simple Minds in den Sinn: zehn Songs über die politischen Probleme ihrer Zeit, von Südafrika („Biko“, „Mandela Day“) bis nach Nordirland („Belfast Child“). Voller Energie, voller Sendungsbewusstsein. Ähnlich natürlich U2, oder Sting, oder Midnight Oil, oder die Housemartins, oder New Model Army, oder in Deutschland die Toten Hosen oder die Ärzte. Oder, oder, oder. Künstler lehnten sich auf gegen die Missstände der Gesellschaft.

Die Popmusik hat sich seither gewandelt. Verschiedene Studien haben diese Veränderung quantifiziert. Neben einer über die Jahrzehnte schlichter werdenden Harmonik, enger werdender Spanne an Klangfarben und Dynamik und immer repetitiveren Texten (kurz: Sie wird tatsächlich immer schlechter) gibt es auch eine Verschiebung in den Genres: Zwar scheint es kleine Unterschiede zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich zu geben, aber insgesamt werden die Lieder elektronischer, entspannter und tanzbarer, andererseits trauriger, und: Der Rock verschwindet.

Rock – das bedeutet Auflehnung. Rock ist rotzig, wütend, laut, energetisch, unnachgiebig. Es gibt keinen braven Rock. Egal, ob man Rock mag – man muss anerkennen, dass er voller Energie steckt, dass er sperrig ist, sich nicht einpassen will. Rock ist musikgewordenes Nein!

Es gäbe wahrlich genügend Grund, unserer Gesellschaft ein wütendes „Nein!“ entgegenzuschreien. Während die Regierenden des Westens Kriege führen und vorbereiten, während sie Recht brechen und Empörung heucheln, während sie Gewalt säen und Hass ernten, während sie die Reichen reicher und die Armen ärmer werden lassen, die Umwelt und all unsere Lebensgrundlagen zerstören, verkaufen sie und ihre Handlanger in den Medien uns für dumm und speisen uns mit Brot und Spielen ab.

Und so viele Menschen sind tatsächlich so dumm. Sie köcheln auf ihrem Ärger faulige Ressentiments, lassen sich feige neun von zehn Brötchen wegnehmen und hetzen dann gegen den Hungernden, der vom letzten einen Krümel braucht. Wahrlich, es gibt so viel Grund für Wut.

Wo ist sie also? Wo bleibt sie? Wo ist die Wut?

Nicht in der Musik. Die Popmusik von heute ist kein Rock. Sie ist auch kein Punk. Sie singt nicht von Protest und Anklage. Im Gegenteil. Deutsche Popmusik ist tönendes Biedermeier; sie singt von häuslicher Harmonie und Bescheidenheit: „Lieber auf Wolke vier als wieder ganz allein.“ Träume müssen realistisch sein. „Und wenn sie tanzt, ist sie woanders“ – sonst aber immer in derselben alternativlosen Scheiße, is‘ halt so. R&B rotzt, aber nicht gegen politisches Unrecht, sondern gegen Leute, die nerven: Schaut her, ich bin eine toughe Frau, ich lasse mir nichts bieten! Musikgewordene Selbstbehauptung.

Schlimmer noch im Rap, der einst die Musik der Unterdrückten und Abgehängten war. Wie Unterdrückte und Abgehängte überall (v.a. in der SPD) träumen sie mitnichten davon, das ungerechte System zu stürzen, sondern nur davon, selbst darin nach oben zu steigen. So rappt der Rapper davon, wie stark und cool er ist, und wie er seinen Lambo auf dreihundert Sachen beschleunigt. (Subversiv wäre, ihn in den Klärteich zu schieben.)

Die Gesellschaft, in der sie sich behaupten und aufsteigen wollen, greift keiner von ihnen an. Ihre Selbstbehauptung, ihr Kampf jeder gegen jeden, ist kapitalistische Ideologie in Tönen. Solidarität mit Schwachen und Verlierern ist uncool, Verweigerung unzeitgemäß. Man kann nicht protestieren, man muss ja noch rechtzeitig Karriere machen. Ehe einen die anderen überholen.

Trotz „Fridays for Future“ genügt der Elan nicht einmal für ökologischen Protest. Schon in den Achtzigern prangerten Midnight Oil die Ausbeutung des Planeten an. Es ist seitdem noch schlimmer geworden – singt irgendwer dagegen an?

II Die Zähmung des Menschen

Gewiss. Wut, Angst, Hass und Traurigkeit sind keine schönen Gefühle. Aber es sind menschliche Gefühle. Sie können ihre Berechtigung haben. Sie treiben uns an. Sie erlauben uns, uns selbst zu fühlen. Gefühle unterscheiden uns von Robotern.

Neurobiologisch kann man Gefühle seit Walter Cannon („Wut, Hunger, Angst und Schmerz“, 1926) als Homöostasesignal sehen. Sie zeigen eine Bedrohung der persönlichen Integrität an. Sie melden, dass ein Ist-Wert vom Soll-Wert abweicht. Wut bedeutet: Etwas ist nicht so, wie es sein soll. Sie motiviert uns, das zu ändern. Gefühle sind die Übersetzung zwischen unserer Umwelt und unserem Handeln.

Die Bloggerin Helen Buyniski („Helen of desTroy“) hat schon seit einiger Zeit beobachtet, dass die negativen Gefühle in unserer Gesellschaft verpönt werden. Man zeigt sie nicht, man hat sie nicht. Traurigkeit? Etwa gar mehr als zwei Wochen Trauer nach dem Verlust eines Angehörigen? Dagegen gibt es Pillen. Denn die Ursache, wie mein Kollege Stephan Schleim nicht müde wird zu kritisieren, wird stets im Gehirn gesucht – und nicht in der betrüblichen Umwelt, mit welcher dieses Gehirn zurechtkommen muss. Krankheit ist immer das Problem des Einzelnen. Bloß nicht an den Umständen zweifeln!

Einsamkeit? Sie ist, wie wir seit kurzem wissen, ein Grundgefühl. Ein Homöostasesignal, das uns antreibt, Nähe zu Menschen aufzubauen, die uns verstehen. Einem erschreckend großen Teil der Menschen in den westlichen Gesellschaften scheint das nicht zu gelingen, zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Amerikaner bezeichnet sich als einsam. Schwerlich könnte ein Problem deutlicher auf soziale Ursachen zurückzuführen sein, aber die Einsamkeitsforscherin Stephanie Cacioppo erklärt es lieber zu einem „public health problem“, das „the full engagement and support of the medical community“ verlangt und testet ein Medikament dagegen (Eine Pille gegen Einsamkeit). Andernorts – wie wiederum Helen Buyniski aufzeigt – entwickelt man Robotergefährten. Der Mensch muss doch ersetzbar sein!

Und Wut? Seitdem man sie als Ursache für Gewalttaten und unerfreuliche Wahlergebnisse ausgemacht hat, doppelt man sie sprachlich mit dem Hass und erklärt sie zum Problem. Man muss doch was tun gegen die Wut! Aber was? Nun, jedenfalls bloß nicht fragen, wo sie her kommt. Das könnte unliebsame Antworten hervorrufen, könnte auf die Binse führen, dass glückliche Menschen nicht wütend werden. Also pathologisiert man die Wut, verbietet sie, verdrängt sie.

Und so haben wir die negativen Emotionen gezähmt und ausgerottet, denn es ist kein Platz für sie in der besten aller möglichen Welten. „Hier ist alles super!“ singen wir gemeinsam und fühlen uns dabei so roboterhaft und innerlich leer wie die Legomännchen. Wir müssen wohl krank sein.

III Die Zähmung der Götter

Was aber bleibt vom Menschen, der keine Gefühle mehr hat? Der nicht mehr weinen, nicht mehr zittern, nicht mehr schreien darf – dem allenfalls noch ein wahnsinniges Lachen erlaubt ist?

Machen wir noch einmal einen Sprung. Einen großen Sprung nach ganz, ganz oben. Die Gottesbilder sind so verschieden wie die Kulturen und Zeiten. Der eifersüchtige Gott des Alten Testaments hat nichts gemein mit dem Gott, der sich aus Liebe selbst am Kreuz geopfert hat, und dieser wiederum nichts mit dem kriegerischen Schulmeister, den Mohammed erfand. „Der Mensch erschuf Gott nach seinem Ebenbild“, sagt das Bonmot geistreich, aber ungenau. Denn: nicht nach dem Eben-, sondern dem Idealbild erschafft der Mensch sich seine Götter. Der Himmelsherr ist ihm Vorbild und moralischer Fixstern. Er weist die Richtung, ist aber unerreichbar.

Wir halten uns für aufgeklärt und atheistisch. In Wahrheit aber sind die Götter heute zahlreicher denn je. Zeus und Odin, Jahwe und Allah haben abgedankt. An ihrer Stelle beten wir „die Märkte“ an, das neue Dioskurenpaar „Freiheit und Demokratie“, und, über allem thronend, den neuen Göttervater „Fortschritt“. Fortschritt ist ein gnadenloser Deus absconditus. Er ist kein Schöpfer, nur ein Optimierer. Das war vielleicht einmal anders, da dachte man einst bei „Fortschritt“ noch an Fortschritte der Gesellschaft, der Menschheit, der Moral. Heute denkt man an höhere Produktivität.

Wie oben, so unten. Wie unten, so oben. Beständige Selbstoptimierung ist das Idealbild des heutigen Menschen. Der Weg wird längst nicht mehr hinterfragt – es gilt nur, ihn schneller voranzukommen. Den Mechanismus, der zu dieser Selbsterziehung führt, hat der große Philosoph Günter Anders schon vor über sechzig Jahren benannt und analysiert: die prometheische Scham. Im Angesicht unserer Produkte, die potentiell unsterblich sind, unendlich oft replizierbar, 24/7 einsatzbereit, nahezu allmächtig, schämen wir uns unserer eigenen Unvollkommenheit. Und eifern unseren eigenen Produkten nach.

Wir machen uns selbst zu Robotern: belastbar, flexibel, stets einsatzbereit, leistungsfähig, niemals krank. Wir haben keine Leistungstiefs, denn wir haben keine Gefühle. Wir haben keine Musik – wir haben Techno. Und tanzen dazu wie Roboter.

Als säkularer Christ kann ich mit den eifersüchtigen, strafenden Göttern der Juden und Muslime recht wenig anfangen. Und das darf ich sagen, weil ich ihnen umgekehrt dasselbe Recht zugestehe. Aber Jahwe und Allah sind mir immer noch lieber als der kalte, unmenschliche Gott der Neuzeit, der unpersönliche „Fortschritt“, der längst aller Attribute und allen Sinns entkleidet ist. Von allem, was „Fortschritt“ einst bedeutet haben mag, ist nichts mehr übrig geblieben als der nackte Effizienzgewinn. Ein Demiurg für Roboter.

Kinder! Töchter! Selbstbehaupter und Gretajünger! Ihr seid keine Roboter! Und alle Götter und Dämonen der Alten mögen verhindern, dass Ihr jemals welche werdet! Kämpft! Tobt! Schreit! Singt! Schimpft! Tanzt! Empört Euch! Verbündet Euch!

Rockt!