Demokratie wie diese bis heute ein Machtmittel der Parteien war

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Wer hat Angst vor dem Volk?


Bereits die Gründerväter der Demokratie hielten das Volk für dumm. Diese Erniedrigung macht den Populismus heute wieder groß. Besiegen kann ihn nur der Glaube an die Mündigkeit des Menschen.

Von Dieter Thomä


Wer ist schuld an der Krise der Demokratie? Die naheliegende Antwort lautet: das Volk. Es bringt Leute wie Donald Trump, Heinz-Christian Strache, Matteo Salvini, Narendra Modi oder Jair Bolsonaro an die Macht und macht die AfD in Deutschland zur drittstärksten politischen Kraft. Viele Zeitgenossen – zumal solche, die sich für klug halten – beklagen, dass das Volk von allen guten Geistern verlassen sei, und suchen nach Wegen, um die Demokratie vor dem Volk zu schützen. Das ist zwar ungefähr so absurd, wie das Atelier vor dem Künstler oder das Restaurant vor dem Koch zu schützen, denn in der Demokratie soll das Volk ja das Sagen haben. Der Aufstieg des Populismus aber bringt dem demokratischen Souverän den Vorwurf ein, den nötigen Durchblick vermissen zu lassen und seine Selbstbestimmung zu vergeigen.

Von Zoodirektoren und Schulmeistern

Diejenigen, die von Misstrauen gegen das Volk erfüllt sind, wollen es kleinhalten und meinen, damit der Demokratie einen Dienst zu tun. Sie geben sich staatsmännisch und ergreifen alle möglichen Schutzmaßnahmen, um die Institutionen vor dem Zugriff des vermeintlich unmündigen Volkes zu schützen. Dieses tiefe Misstrauen hat eine lange philosophische Tradition, deren Protagonisten sich in zwei Berufsgruppen unterteilen lassen: in Zoodirektoren und Schulmeister.

Die Zoodirektoren wollen den Bewegungsspielraum des Volkes einschränken, es anleinen oder einsperren – und zwar deshalb, weil sie im Volk ein Tier sehen. Es ist triebgesteuert, impulsiv, unbelehrbar, unberechenbar und vielleicht sogar blutrünstig. Diese Lesart hat eine lange Tradition. Bei Platon hieß das Volk „großes Tier“, bei Hegel „rohes blindes Tier“, bei Alexander Hamilton, Thomas Carlyle, Honoré de Balzac und vielen anderen „wildes Tier“. Einen subversiven Kommentar zu dieser gefährlichen Mischung aus Angst und Verachtung lieferte Bertolt Brecht in seinem ersten Theaterstück „Baal“. Vorgeführt wurde darin ein Kraftkerl, der sich auf brutale Weise über die guten Sitten hinwegsetzte und als „Orang-Utan“ sowie wiederum als „wildes Tier“ bezeichnet wurde. Dieses Vokabular ist übrigens keineswegs von gestern. Als im Jahr 2011 Jugendliche auf den Straßen Londons und anderer englischer Städte randalierten, hieß es in einem Kommentar der Daily Mail: „Sie sind letzten Endes wilde Tiere. Sie reagieren nur auf triebhafte, tierische Impulse – Essen, Trinken, Sex, Raub oder Zerstörung des Eigentums anderer.“

Während die Zoodirektoren das Volk unter Kontrolle halten wollen, versuchen die Schulmeister, es zu erziehen. Einer der ersten und strengsten war Thomas Hobbes, der meinte, die Armen und Ungebildeten sollten von Staats wegen ein paar Unterrichtsstunden bekommen, in denen sie zu lernen hätten, dass die Befolgung der Gesetze in ihrem eigenen Interesse liege. Hobbes forderte sogar, dass sie dafür von der Arbeit freigestellt werden sollten, erfand nebenbei also immerhin den Bildungsurlaub. Der Zweck dieser Schulung bestand freilich nur darin, gute Untertanen, nicht mündige Bürger hervorzubringen.

Auf Hobbes folgen dann ehrgeizigere Schulmeister, die das kindliche Volk zur Mündigkeit führen wollen oder – nach Immanuel Kants berühmter Formel – den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ propagieren. Kant will dem Volk die „Faulheit und Feigheit“ verleiden, „Vormündern“ zu folgen. Damit tut er nichts anderes, als einer Analyse Niccolò Machiavellis eine freiheitliche Wendung zu geben. Schon bei Machiavelli heißt es: „Ein Volk, das daran gewöhnt ist, unter einem Fürsten zu leben, ist in der gleichen Lage wie ein Raubtier, das zwar von Natur wild und unbändig, aber immer im Käfig und unter der Peitsche gehalten, durch einen Zufall ins Freie gelassen wird. Es wird dann die Beute des ersten besten, der es wieder an die Kette legen will.“ Bei Machiavelli wie auch bei Kant steht am Anfang ein Volk, das von der Aufgabe der Selbstbestimmung überfordert scheint und dazu neigt, sich zweifelhaften Vormündern oder Leitwölfen an den Hals zu werfen. Genau diesen Mechanismus machen sich die populistischen Führer heutzutage zunutze.


Bei Machiavelli wie auch bei Kant steht am Anfang ein Volk, das von der Aufgabe der Selbstbestimmung überfordert scheint


Gegen die Unmündigkeit und die Demagogie falscher Vormünder lanciert Kant eine emanzipatorische Initiative. Sie ist leider nicht über allen Zweifel erhaben. Bei Kant ist die Aussicht auf Selbstbestimmung mit dem Vorbehalt gekoppelt, dass dem Volk ohne gehörige Betreuung keineswegs zu trauen sei. Kant, der Schulmeister, ist vom Zoodirektor weniger weit entfernt, als sich manche seiner Verehrer dies wünschen. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Schule der Demokratie einen ziemlich anspruchsvollen Lehrplan hat. Wenn Kant allerdings das Projekt der Volkserziehung als Kampf gegen die „Rohheit“ der „Sinne“ und den Wildwuchs der Leidenschaften anlegt, dann verwendet er ein Argumentationsmuster, das zum Missbrauch geradezu einlädt: Es besagt, dass die Demokratie eigentlich eine feine Sache ist, aber viele Völker dafür nicht reif seien. Das Scheitern der Demokratie wird auf die Dumpfheit der Völker zurückgeführt.

Diese Auffassung war – um ein historisches Beispiel einzuflechten – besonders weit verbreitet, als die Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit verhandelt wurde. Offen oder hinter vorgehaltener Hand hört man sie heute noch häufig, wenn von den Schwierigkeiten mit der Demokratie in der sogenannten Dritten Welt die Rede ist. Die Demokratie ist nach dieser Lesart ein Geschenk des Westens, zu Rückschlägen kommt es wegen der Unreife der Menschen, die beglückt werden sollen. So schrieb Heinrich Mann in dem kleinen Text „Der Europäer“ von 1916: „Das Erwachen der Seele selbst kommt jenen Schläfern der Jahrtausende“ – gemeint sind die „dunklen Massen Indiens und Ägyptens“ – „nur von uns. Die Revolte der Vernunft, der Würde des Menschengeistes, ist unser Erbteil.“ Franz Kafkas ein Jahr nach Heinrich Manns Text entstandener „Bericht an eine Akademie“, in der ein Affe von seiner Menschwerdung erzählt, darf man auch als Karikatur auf Manns „Europäer“ und Kants „Mündigkeit“ lesen. „Mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen nur allzu oft“, heißt es bei Kafka.

Die aufklärerische Erziehung zur Mündigkeit ist ein Geschenk, dem Gift beigemischt ist. In der Frühzeit hat es immer wieder als Vorwand dafür gedient, das Volk von der Macht fernzuhalten und es einer langwierigen Schulung zu unterziehen. Heute beobachtet man die umgekehrte Entwicklung: Sie führt von der Demokratie, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, zurück in einen infantilen Zustand, in dem ein unmündiges Volk von populistischen Führern manipuliert wird. Die Krise der Demokratie wird als Regression gedeutet. Man verweist beispielsweise darauf, dass Trump-Anhänger einen vergleichsweise geringen Bildungsstand aufweisen. Oder man meint halb gönnerhaft, halb abfällig, die Ostdeutschen bräuchten Nachhilfeunterricht in Demokratie.

Fürsprecher der Demokratie können auf diese Weise in komfortabler Selbstgefälligkeit verharren. Sie sind fein raus, sie können eigentlich nichts falsch machen, denn alles, was schiefgeht, ist dem bornierten Volk anzulasten. Diese gängige Beschreibung muss gewissermaßen um 180 Grad gedreht werden, erst dann ergibt sie Sinn.

Demnach gilt: Die Unreife des Volkes ist ein Nebenprodukt der real existierenden Demokratie selbst. Über Jahre hinweg ist dem Volk von seinen Repräsentanten vermittelt worden, dass es sowieso nicht den Durchblick haben könne, dass die Steuerung komplexer Gesellschaften seine Kompetenz überschreite, die Experten die Strategie entwickeln und die Sache richten, die globalen Verflechtungen in den Chefetagen und Hauptquartieren gepflegt werden. Besonders wirkungs- und verhängnisvoll sind in diesem Zusammenhang die Berufung auf den Sachzwang und die Ausbreitung des von Margaret Thatcher lancierten TINA-Prinzips („There Is No Alternative“). Wenn die Exekutive das, was geschieht, für alternativlos erklärt, dann schafft sie faktisch die Demokratie ab, in deren Namen sie handelt. Dann darf man sich freilich nicht darüber wundern, dass das Volk diese Auskunft beim Wort nimmt und sich in einer postdemokratischen Welt einrichtet.

Infantile Volks-Empfänger

Die Infantilisierung des Volkes wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass sich die Konsumhaltung, die im Kapitalismus eingeübt wird, auf die Politik ausweitet. So verwandelt sich das Volk in einen Volks-Empfänger und der Staat erscheint nicht als Bühne der Selbstbestimmung, sondern als Instanz, die alle möglichen Zuwendungen, Dienst- und Versorgungsleistungen ausgibt. Solange der Sozialstaat mit einer gönnerhaften, paternalistischen Attitüde auftritt, lässt er das Volk als Betreuungsfall dastehen. Erwachsensein oder Mündigkeit sind nicht nötig, ja sogar eher störend. Dazu passt, dass konservative Sozialtheoretiker wie Arnold Gehlen, Helmut Schelsky und Ernst Forsthoff in den 1950er-Jahren den sogenannten „Vorsorgestaat“ als krönenden Höhepunkt einer totalen Entpolitisierung der Bevölkerung gefeiert haben.


Die Unreife des Volkes ist ein Nebenprodukt der real existierenden Demokratie selbst


Der Populismus ist ein kruder Protest des Volkes dagegen, dass es – ausgerechnet! – von demokratischen Institutionen im Zustand der Unreife gehalten wird. Es handelt sich dabei um eine Reaktion auf die real existierende Demokratie, die deformiert und defekt ist. Das heißt natürlich nicht, dass die populistische Reaktion politisch zu begrüßen wäre – im Gegenteil. Aber Demokraten können beim Kampf gegen den Populismus leider nicht mit stolzgeschwellter Brust vorgehen, sondern müssen Selbstkritik üben.

Die Strategie des Populismus besteht darin, veritable Schwächen der Demokratie aufzuspießen – zum Beispiel die Schwächung der Willensbildung und das Schwinden der Einflussmöglichkeiten von Bürgern in der globalisierten Welt –, um diese Schwächen dann mit demagogischer Raffinesse zu übertreiben. Besonders wirkungsvoll ist in diesem Zusammenhang der Kult des Ressentiments. Demnach wird den Menschen die Deutung angeboten, dass keiner sie ernst nehme, dass sie von bornierten Bürokraten, korrupten Eliten oder anderen anonymen Strippenziehern untergebuttert werden würden. Nach einem robust funktionierenden psychologischen Mechanismus ergibt sich aus dieser Opferhaltung ein Blankoscheck für exzessive Täterschaft. Die Logik dahinter lautet: Wer sein Leben lang zu kurz gekommen ist, wer immer nur auf den Deckel gekriegt hat, ist irgendwann so weit, dass er nicht nur zurückschlägt, sondern wild um sich tritt. So wächst auch die Bereitschaft, die Demokratie in die Tonne zu treten. Wenn dem Populismus dies gelingen sollte, dann wäre das auch die Schuld einer Demokratie, die den Bürgern den Eindruck vermittelt, dass sie ihr eher lästig sind.

Ein Freund der Demokratie, der französische Adlige Alexis de Tocqueville, hat schon im frühen 19. Jahrhundert das Entscheidende zu diesem Thema formuliert: „Sagt man mir also, die Gesetze seien schwach und die Regierten ungebärdig, die Leidenschaften heftig und die Tugend machtlos, und in dieser Lage dürfe man nicht daran denken, die Rechte der Demokratie zu vermehren, so erwidere ich darauf, man müsse gerade wegen dieser Dinge daran denken. Dass das Volk die öffentlichen Angelegenheiten oft sehr schlecht führt, ist unbestreitbar; aber nur wenn das Volk sich in die Staatsgeschäfte einmischt, erweitert sich der Kreis neuer Vorstellungen, und durchbricht das Denken die alltäglich gewohnten Grenzen.“ Reflexhaft klammern sich die Hüter der Demokratie zurzeit an die Institutionen und versuchen, sie vor dem Volk zu schützen. Diese Verpanzerung rettet die Demokratie nicht, sondern zerstört sie. Dem ausgeschlossenen Volk bleibt dann, sich an diesem Panzer den Kopf einzurennen, doch mit einem Brummschädel kommt man nicht auf gute Gedanken. Man muss den Mut haben – heutzutage vielleicht sogar den Mut der Verzweiflung –, an die Weisheit des Volkes zu glauben. Wer dies nicht tut, soll gleich zugeben, dass er nur ein Salondemokrat ist.