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Wie die Volkskammer den Untergang der DDR beschloß

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Die MmgZ-Redaktion empfiehlt diesen Bericht auch zwischen den Zeil zu lesen, denn darin findet der bewußte Leser mehr Wahrheit als geschriben wurde.

Im Sommer 1990 verlassen immer mehr Menschen die DDR. Die Wirtschaft steht vor dem Kollaps. Dann geht alles plötzlich ganz schnell. Über eine Sternstunde deutscher Parlamentsgeschichte.

Es ist kurz vor drei Uhr morgens an jenem 23. August 1990, als Gregor Gysi, Vorsitzender der PDS-Fraktion in der Volkskammer, eine persönliche Erklärung abgibt: „Frau Präsidentin! Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 …“ Weiter kommt er nicht, denn in diesem Moment brandet Beifall und Jubel unter den meisten Abgeordneten auf.

Gysi macht eine Pause und setzt dann fort: „… beschlossen. Die DDR, wie sie auch immer historisch beurteilt werden wird, war für jeden von uns mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen das bisherige Leben.“ Sein Bedauern darüber, dass über den Beitritt zur Bundesrepublik mit einem „Änderungsantrag und im Hauruckverfahren“ und damit „ohne würdige Form“ abgestimmt worden sei, teilt die Mehrheit der Abgeordneten jedoch nicht. Im Gegenteil: Nach einer emotionalen Debatte, zahlreichen Auszeiten und Anträgen hatten nur wenige Minuten zuvor 294 der 363 Volkskammer-Abgeordneten für den „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990“ gestimmt.

Die notwendige Zweidrittelmehrheit dafür wurde in jener Nachtsitzung im Palast der Republik in Berlin hart erkämpft, vor allem, weil noch wenige Stunden zuvor überhaupt nicht abzusehen gewesen war, dass der so entscheidende Beschluss an diesem Tag fallen sollte.

Doch dann ergreift am Abend des 22. August, kurz vor 19 Uhr, DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) das Wort und beantragt zur Überraschung selbst seiner eigenen Fraktion eine Sondertagung der Volkskammer noch am selben Abend. Einziges Thema: Der Beitritts-Termin zur BRD. Die 30. Tagung der Volkskammer beginnt kurz darauf um 21 Uhr. Auf der Tagesordnung stehen zwei Anträge: Die Fraktion der DSU (Deutsche Soziale Union) will den sofortigen bedingungslosen Beitritt, während 20 CDU-Abgeordnete für die Einberufung einer Volkskammersitzung am 9. Oktober plädieren, um den Beitritt zum 14. Oktober 1990 zu beschließen, dem Tag, an dem aus 14 DDR-Bezirken wieder fünf Länder entstehen sollen.

Warnung vor Eile

Regierungschef de Maizière ist zu dieser Zeit enorm unter Druck. Die DDR-Wirtschaft steht seit der Einführung der D-Mark am 1. Juli vor dem endgültigen Kollaps, die Arbeitslosigkeit steigt rasant, immer mehr Menschen verlassen das Land, und seine Regierungskoalition mit der SPD ist gerade zerbrochen, weshalb er auch noch das Amt des Außenministers mit übernommen hat.

In Bonn wiederum macht Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Druck, er will die Einheit so schnell wie möglich, und nun schwirrt seit Wochen schon eine Vielzahl an Terminen dafür durchs Land. De Maizière will deshalb Klarheit, wie er in seiner Eingangsrede sagt. Das unwürdige Spiel mit dem Beitrittstermin müsse aufhören, ein verbindlicher Beschluss sei „überfällig“.

Zugleich wendet er sich gegen „überstürzte Eile und absichtliches Verzögern“, sondern plädiert für einen geordneten Beitritt. „Wir erleben und gestalten eine besonders wichtige Phase deutscher Politik und damit deutscher Geschichte“, sagt er, und dass er nicht wisse, ob sich dessen immer alle bewusst seien. Er appelliert an die Besonnenheit der Parlamentarier. „Wir sollten alles tun, um die neugewonnene politische Kultur nicht durch überzogene Verhaltensweisen jetzt aufs Spiel zu setzen.“ Profilierungsversuche wie anderswo dürften für die Volkskammer kein Maßstab sein. „Wir sollten bis zum Schluss immer die Sache über die Taktik stellen.“

Auf die Abgeordneten der DSU, die bereits ihrem Mitgründer und damaligen Innenminister Peter-Michael Diestel zu (rechts-)radikal geworden waren, macht das keinen Eindruck. Sie verlangen, „das bankrotte Unternehmen DDR sofort zu beenden“ und die umgehende Übernahme durch die Bundesrepublik. Davor jedoch warnen alle anderen Fraktionen. Wolfgang Thierse, Vorsitzender der SPD-Fraktion, nennt die Bedingungen, die vor einem Beitritt zu erfüllen seien: Die Zwei-plus-Vier-Gespräche der beiden deutschen Staaten mit den Siegermächten müssten beendet, der Einigungsvertrag beschlossen und die fünf Länder, die ja anstelle der DDR der Bundesrepublik beitreten, wiedergegründet sein.

„Das ist ein historischer Tag“

Nach Mitternacht wird der DSU-Antrag mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Dann aber kursiert ein Änderungsantrag, in dem die Fraktionen von CDU, FDP, SPD und Demokratischem Aufbruch für einen Beitritt am 3. Oktober plädieren. Weil am Tag zuvor eine Außenministerkonferenz der Siegermächte zum Beitritt tage, sei das der frühestmögliche Termin, erläutert CDU-Fraktionschef Günther Krause, der zugleich den Einigungsvertrag verhandelt.

Den wiederum wollen viele Abgeordnete erst sehen, bevor sie über den Beitritt entscheiden. Die Grünen fordern deshalb, dass die Volkskammer am 3. Oktober über den Beitritt abstimmen soll. Wolfgang Thierse mahnt jedoch, dass man ja wohl nicht ernsthaft damit drohen könne, nicht beizutreten. Es ist eine lebhafte Aussprache und eine der in diesen letzten Monaten der DDR zahlreichen Sternstunden ihres Parlaments: Wie die Abgeordneten, die fast alle völlig neu in der Politik sind, meist sachlich Argumente austauschen und um die beste Lösung ringen, aber dabei auch ihren Humor nicht verlieren.

Um 2:30 Uhr stimmen die Abgeordneten schließlich über den Änderungsantrag ab, der verlesen wird, weil er so schnell gar nicht allen Parlamentariern zugestellt werden kann. Zwanzig Minuten später verkündet Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) unter langanhaltendem Beifall das Ergebnis. „Das ist ein historischer Tag“, sagt sie. Keine sechs Wochen später wird die deutsche Einheit formal vollendet und der 3. Oktober fortan ein Feiertag in ganz Deutschland sein.